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Sucht am Arbeitsplatz: „Jeder wusste es – aber keiner hat es angesprochen.“

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Sucht am Arbeitsplatz ist ein weit verbreitetes, aber oft tabuisiertes Thema. Betroffene kämpfen nicht nur mit ihrer Abhängigkeit, sondern auch mit dem Schweigen ihres Umfelds. Unser Interviewpartner Fabian Weihrauch kennt diese Situation aus eigener Erfahrung. Als trockener Alkoholiker und heutiger Seminarleiter und Berater setzt er sich dafür ein, Unternehmen und Führungskräfte für den richtigen Umgang mit suchtkranken Mitarbeitenden zu sensibilisieren.
Im Gespräch berichtet er, wie er seine Sucht lange im Berufsalltag versteckte, welche Fehler Arbeitgeber im Umgang mit betroffenen Personen machen – und wie Unternehmen eine offene und unterstützende Präventionskultur schaffen können.

Haufe Akademie: Herr Weihrauch, wussten Ihre Kolleginnen und Kollegen damals von Ihrer Sucht?

Fabian Weihrauch: Ja und nein. In einem Unternehmen mit 200 Leuten sprechen viele hinter vorgehaltener Hand darüber, wer Alkoholprobleme hat – aber nur selten wird es direkt angesprochen. Bei mir hat sich damals genau eine Person getraut, mich direkt darauf anzusprechen. Heute weiß ich: Mindestens 30 bis 40 Kolleginnen und Kollegen haben es vermutlich bemerkt, aber niemand hat reagiert. Das zeigt, dass Sucht immer noch ein großes Tabuthema in Deutschland ist.

Haufe Akademie: Wie haben Sie Ihre Sucht im Joballtag verborgen?

Fabian Weihrauch: Suchtkranke finden immer Wege. Ich habe als dualer Student in einem Baumarkt gearbeitet. Dort gab es sogenannte „Wechselhochzonen“, also Lagerbereiche, die für Kunden und viele Mitarbeiter unsichtbar waren. Ich deponierte meinen Alkohol dort, sodass ich jederzeit darauf zugreifen konnte. Auch der Geruch war kein Problem: Es gibt bestimmte Alkoholsorten, die man im Atem später nicht riechen kann. Zudem helfen Mittel wie Mundspray, Hustenbonbons oder Knoblauch, um eine Alkoholfahne zu überdecken. Augentropfen kaschieren glasige Augen. Viele denken, Alkoholiker erkennt man sofort – aber die Realität sieht anders aus: Manchmal sind es gerade die leistungsstärksten Mitarbeitenden, die unerkannt trinken.

Haufe Akademie: Hat Ihr Arbeitgeber Sie bei der Bewältigung Ihrer Sucht unterstützt?

Fabian Weihrauch: Nein, ganz im Gegenteil. Ich wurde krankgeschrieben, weil ich in eine Klinik ging. Trotzdem schickte mir mein Arbeitgeber am Ende meiner Ausbildung einfach eine Glückwunschkarte mit der Mitteilung, dass meine Prüfung bestanden sei – obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal arbeitsfähig war. Eine Kündigung oder ein Gespräch gab es nie. Das war 2008. Damals war das Thema Sucht in Unternehmen noch viel weniger etabliert als heute. Mittlerweile haben viele Firmen erkannt, dass ein professioneller Umgang mit suchtkranken Mitarbeitenden sehr wichtig ist.

Haufe Akademie: Woran können Führungskräfte eine Suchterkrankung erkennen?

Fabian Weihrauch: Es gibt keine eindeutigen Erkennungsmerkmale. Aber bestimmte Verhaltensweisen können Hinweise geben:

  • Häufige Montags-Krankmeldungen, oft entschuldigt durch Familienmitglieder
  • Am Folgetag plötzlich „wie das blühende Leben“ erscheinen
  • Unangemessene emotionale Ausbrüche
  • Ungewöhnlich lange Toilettenpausen oder das Verschwinden vom Arbeitsplatz
  • Leistungsschwankungen oder unerklärliche Fehler

Diese Zeichen bedeuten nicht automatisch eine Suchterkrankung, können aber Hinweise darauf sein.

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Suchterkrankungen stellen Personalabteilungen, Führungskräfte und Kolleginnen und Kollegen vor große Herausforderungen. Einerseits verursachen sie Fehlzeiten und Kosten. Andererseits stellt sich die Frage, wie mit Suchterkrankten im Unternehmen umzugehen ist. Dieses Webinar gibt Antworten auf wichtige Fragen zum Thema Sucht im Unternehmen. Wir zeigen Ihnen auf, wie Sie Konsum am Arbeitsplatz ansprechen können und sich angemessen, empathisch und sensibel gegenüber Betroffenen verhalten.


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Haufe Akademie: Wie können Führungskräfte angemessen reagieren?

Fabian Weihrauch: Die beste Strategie ist der sogenannte „konstruktive Leidensdruck“: Man konfrontiert den Mitarbeitenden klar, aber wertfrei mit den beobachteten Verhaltensweisen. Keine Diagnosen stellen, sondern sachlich nachfragen, wie zum Beispiel: „Mir ist aufgefallen, dass Sie in den letzten Wochen mehrfach montags gefehlt haben und dienstags wieder topfit bei der Arbeit erschienen sind. Können Sie mir erklären, woran das liegt?“ oder „Ihre Stimmungsschwankungen sind auffällig – gibt es etwas, worüber Sie sprechen möchten?“
Wichtig ist: Die Frage sollte immer offen bleiben. Führungskräfte sind keine Therapeuten oder Ärzte, sie können keine Diagnose stellen. Aber sie müssen das Thema ansprechen und klare Konsequenzen setzen, wenn das beobachtete Verhalten den Arbeitsalltag beeinträchtigt.

Haufe Akademie: Welche Maßnahmen der betrieblichen Suchtprävention helfen wirklich?

Fabian Weihrauch: Ich empfehle einen mehrstufigen Maßnahmenplan. Zunächst müssen im Unternehmen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Eine Betriebs- oder Dienstvereinbarung zum Umgang mit Suchtproblemen ist essenziell. Dazu gehört auch die Entscheidung, ob Alkohol am Arbeitsplatz grundsätzlich verboten wird. Als zweite Maßnahme sollte man einen Steuerkreis einrichten. Dies ist eine Arbeitsgruppe aus Führungskräften, Betriebsratsmitgliedern und Arbeitnehmern, um Strategien zum Umgang mit Sucht zu entwickeln. Diese sollten dann auch einen Suchthelfer benennen, der dazu ausgebildet wird, Ansprechperson im Unternehmen zu sein, um Betroffene zu unterstützen, indem er oder sie beispielsweise externe Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten kennt und darauf verweisen kann. Als weitere Maßnahme müssen die Führungskräfte geschult werden. Denn diese sollten wissen, wie sie Auffälligkeiten im Verhalten von Mitarbeitenden ansprechen, ohne zu werten oder zu diagnostizieren. Als letzte Maßnahme empfehle ich die Sensibilisierung der Belegschaft: Informationen über Sucht und entsprechende Hilfsangebote, z. B. wer ist in meinem Unternehmen Suchthelfer, sollten über das Intranet zugänglich gemacht werden.

Haufe Akademie: Wie vermeiden Führungskräfte Fehler? Was sind absolute No-Gos im Umgang mit suchterkrankten Mitarbeitenden?

Fabian Weihrauch: Man sollte nie Vermutungen und Wertungen äußern. Sätze wie „Ich glaube, du bist Alkoholiker.“ sind kontraproduktiv und führen zu Abwehrreaktionen. Im Gespräch „herumeiern“ und das Offensichtliche nicht ansprechen sollte man ebenfalls vermeiden, denn damit ist niemandem geholfen. Am besten ist eine offene Frage wie „Kann es sein, dass in deinem Leben das Thema Sucht eine Rolle spielt?“. Das lässt Erklärungsspielraum beim Gegenüber und drängt ihn nicht direkt in die Ecke Alkoholismus. Aber der Betroffene merkt auch, dass sein Verhalten im Unternehmen nicht unerkannt bleibt. Das wiederum erzeugt den oben genannten konstruktiven Leidensdruck.

Haufe Akademie: Was raten Sie Menschen, die bei sich selbst ein Alkoholproblem vermuten?

Fabian Weihrauch: Mein Rat: Sucht euch eine neutrale dritte Person, die keine emotionale Bindung zu euch hat – sei es ein Arzt, eine Selbsthilfegruppe oder eine Suchtberatungsstelle. Familie und Freunde sind oft zu befangen, um eine ehrliche Einschätzung zu geben. Diese neutrale dritte Person wird euch euer Verhalten offen und ehrlich spiegeln. Für das Feedback dieser Person sollte man dann natürlich offen sein.

Haufe Akademie: Zu guter Letzt: Was wollen Sie Unternehmen noch mit auf den Weg geben?

Fabian Weihrauch: Sucht am Arbeitsplatz ist keine Ausnahme, sondern Realität in vielen Unternehmen. Umso wichtiger ist es, nicht wegzusehen, sondern klare Strukturen für Prävention und Unterstützung zu schaffen. Unternehmen sollten frühzeitig handeln, betroffene Mitarbeitende nicht stigmatisieren und Führungskräfte schulen, um erste Warnsignale zu erkennen und professionell anzusprechen. Wer eine offene Unternehmenskultur fördert und suchtkranken Mitarbeitenden Unterstützung anbietet, trägt nicht nur zu deren Genesung bei, sondern stärkt langfristig auch das gesamte Team und die Arbeitsqualität.

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Über den:die Autor:in

Fabian Weihrauch

Diplom Betriebswirt (BA). Suchtbeauftragter und Leiter von Schulungen zur Suchtprävention u.a. für einen der 10 größten Lebensmitteleinzelhändler der Welt. Er ist selbst trockener Alkoholiker und ehemaliger multipler Drogennutzer.