Weg von der digitalen Lethargie – hin zu konkreten Initiativen
Überall hört man es: Unternehmen sollen sich endlich wandeln.
Man hat das Gefühl, auf jeder Konferenz wird davon gezwitschert. Ja, sogar Nerd-Formate wie der Twitwoch haben sich mittlerweile dem Thema „Digitale Transformation” zugewendet. Aus Sicht der Nerds steckt dahinter natürlich die Hoffnung, die etablierten Firmen würden nun endlich aufwachen und entsprechende Budgets lockermachen. Die Digitale Bohème scheint das Herumsitzen in Cafés langsam satt zu haben. Digitale Transformation.
Die Botschaft ist klar und eindeutig: die deutsche Wirtschaft – und vor allem der deutsche Mittelstand müssen sich digital besser aufstellen, wenn die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland nicht in Gefahr geraten soll. Und bei solchen Tönen wird man in Deutschland dann in aller Regelmäßigkeit wach.
Phase 1: Der Wille zählt
Überall sind also Initiativen aus dem Boden geschossen, die dem Mittelstand helfen wollen, endlich eine ‚Digitale DNA‘ zu entwickeln. Die IHK Köln hat sogar eine Initiative namens „Digital Cologne” gestartet. Gemeinsam mit dem extra aus Düsseldorf angereisten NRW-Wirtschaftsminister wurde der rote Knopf zum Start in eine digitale Zukunft gedrückt.
Nach anfänglicher Euphorie fragt man sich leise: Erst jetzt?
Und wagt gar nicht danach zu fragen, was denn all die Internet-Agenturen und Software-Firmen, nicht nur in Köln, in den letzten 20 Jahren so getan haben, dass es nun der IHK-Chef persönlich anpacken muss?
Am Mangel an Angeboten scheint es nicht zu liegen: es gibt in Köln den Startplatz, den Solution Space, eine einwöchige Internetwoche Köln, organisiert von der Kölner Internet Union, das einwöchige Festival „Interactive Cologne”. Und da wären noch Spezialkonferenzen wie die Content Marketing Conference und die inzwischen wohl weltgrößte Messe für Online- Marketing namens DMEXCO.
Phase 2: Die gemeinsame Geisterbahnfahrt
Die derzeit von Flensburg bis Garmisch-Patenkirchen stattfindenden Veranstaltungen, rund um das Thema Digitalisierung haben nämlich einige Gemeinsamkeiten, die man durchaus als auffällig bezeichnen kann.
Gern laufen die Treffen in etwa so ab: vorn am Rednerpult werden tolle Zahlenspiele aufgeführt: „In jeder Minute werden weltweit 60 Millionen Tweets abgesendet!” Man erfährt, dass YouTube innerhalb der letzten fünf Minuten so und so viele Videos abgespielt hat oder dass amerikanische Kaufhaus ketten schon zu twittern anfangen, wenn man in hundert Metern Entfernung einen Hot Dog gegessen hat.
Das Publikum fühlt sich wie auf dem Jahrmarkt – in einer Mischung aus Achterbahnfahrt und Gruselkabinett. Aber haben diese Dinge auch einen wirtschaftlichen oder sogar strategischen Mehrwert?
Von oben ruft es der staunenden Menge zu: Ihr müsst Euch endlich transformieren! Apple baut Plattformen und Ihr habt noch nicht einmal eine App!
Diese Art von Treffen hinterlassen bei allen ein gutes Gefühl: entweder man fühlt sich bestätigt, richtig zu liegen, oder man hat sich wenigstens richtig gegruselt, wie schlimm und anders die Zukunft wird.
Was genau „Digitale Transformation” sein soll und welche konkreten Schritte ein Unternehmen gehen sollte, erfährt man selten. Für die meisten geht am nächsten Tag der alte Bürotrott weiter. Aber wenigstens weiß jeder Bescheid, wenn in der Zeitung oder im Internet mal wieder von Apple berichtet wird. Allen ist aber klar: es ist eine gefährliche Zeit, wir sitzen auf der Titanic.
Phase 3: Der digitale Haka
Beim polynesischen Volk der Maori tanzt man den Haka, einen rituellen Tanz, der Gemeinschaftsgefühl erzeugen und den Zusammenhalt gegen Feinde von außen stärken soll (wen es genau interessiert: siehe Wikipedia). Er wurde häufig auch vor kriegerischen Auseinandersetzungen getanzt. Die neuseeländische Rugby-Nationalmannschaft führt den Haka vor jedem Spiel auf, um den Gegner einzuschüchtern und sich selbst anzutreiben.
Wer sich anschaut, welche digitale Weltmacht da jenseits des Atlantiks aufgebaut wird und welche Eroberungsansagen von Unternehmen wie UBER an die Adresse auch deutscher Kleinunternehmer zu hören sind, sieht sofort ein, dass es da nicht schaden kann, ein wenig den Haka zu tanzen. Noch besser allerdings wäre es, nach dem Tanz, konkrete Maßnahmen zu starten. Ob die ganze Folklore nämlich helfen wird, ist durchaus fraglich.
Die Frontalformate erfüllen also das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich gegenseitig zu versichern, die Gefahren erkannt zu haben, und daher nicht allein, sondern gemeinsam auf dem richtigen Weg zu gehen, nämlich dem der Transformation hin zum Digitalen zu sein.
Phase 4: Nun muss geliefert werden
Was sich gerade in Köln abspielt, findet also auch in anderen deutschen Städten wie Stuttgart, Frankfurt oder München statt. Digital scheint es auf breiter Front voranzugehen. Digital wird Mainstream.
Die meisten Internet-Agenturen empfehlen ihren Kunden und Kundinnen mittlerweile, ihr Geschäftsmodell digital zu transformieren – die Begriffe werden immer wieder neu ausgetauscht – aber dieses Mal geht es um einen ganzheitlichen Blick auf das Digitale – und das ist zunächst einmal eine sehr gute Entwicklung.
Solange derartige Initiativen offene und vernetzte Entwicklungen bleiben und nicht zu Hinterzimmer-Veranstaltungen – einer Art ‚Digitalem Klüngel‘ – degenerieren, wäre das eine durchaus positive Entwicklung.
Allerdings sollte jedem klar sein, was es bedeutet, die Unternehmen aufzurufen sich grundlegend zu erneuern: es müssen richtig wegweisende Konzepte entwickelt werden! Kein Mittelmaß, kein Abklatsch.
Aber nicht nur die Otto-Normal-Mittelständler müssen sich ändern, wenn wirklich eine neue Stufe der Wertschöpfung erreicht werden soll (denn nichts anders kann ‚Digitale Transformation‘ bedeuten).
Nein – der Forderung gilt es seitens der Digitalwirtschaft erst einmal selbst gerecht zu werden. Dazu müssen sich jedoch der Beratungsansatz sowie die Networking-Formate erheblich verändern.
Phase 5: Aufstieg oder Ernüchterung
Am Ende werden auch die wildesten Kriegstänze nicht reichen, um die digitalen Supermächte in die Schranken zu weisen. Für viele Mittelstandsunternehmen wird es keine Transformation mehr geben – sie werden aus dem Markt ausscheiden.
Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus den ersten zwanzig Jahren des Internets könnte man so zusammenfassen: das Internet ist ein globales Phänomen und am Ende gewinnt immer eine amerikanische Firma. Der tiefere Grund liegt in der viel zu niedrigen Kapitalisierung der europäischen Startups und Unternehmen. So kommt es irgendwann unweigerlich zur Übernahme. Es müssen also nicht mehr Tweets, sondern es muss mehr Geld und mehr Vernetzung zu relevanten Playern ins System.
Und gegen so eine Kraft hilft es nicht, sich an Bäume zu ketten, den digitalen Haka aufzuführen oder dagegen anzutwittern. Aber es macht vielleicht Mut, sich den Dingen zu stellen – wenn man dabei nicht stehenbleibt, ist das schon eine ganze Menge. Nur die inhaltliche Qualität und Klarheit der Mittelstandsinitiativen und der Schaffung neuer Standortvorteile wird hier Unternehmen und Regionen voranbringen.