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Raus aus eingefahrenen Loipen: wie mehr Selbstorganisation im Team gelingt

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Viele Führungskräfte in hierarchisch organisierten Unternehmen senden die Botschaft „Wir müssen agiler werden!“. Das Ansinnen dahinter: Die Fähigkeit, schneller auf sich ändernde Bedingungen im Markt reagieren zu können. Antoinette Beckert – Leadership Coach und Change-Managerin erarbeitet mit Führungskräften, wie sie die Transformation hin zu mehr Selbstorganisation in Gang bringen können.

Das Interview führte Torsten Otto, Leiter Entwicklungsprogramme Haufe Akademie:

Wie kann ein guter Startpunkt für eine Transformation gesetzt werden?

Wenn es um „mehr Agilität“ bzw. Selbstorganisation geht, halte ich es für sinnvoll, dass eine Führungskraft sich zunächst drei wesentliche Fragen stellt: Wo soll die Reise hingehen? Bin ich bereit, selbst an meiner Einstellung und Arbeitsweise etwas zu ändern, damit sich was tut? Wie viel Zeit gebe ich uns? Wenn Teams oder Unternehmen raus aus eingefahrenen Loipen kommen wollen, braucht es vielfach eine Initialzündung– und die muss meiner Erfahrung nach von der Führung ausgehen.

Worin besteht die größte Herausforderung für die Führungskräfte?

Führungskräfte spiegeln mir immer wieder ihren Balanceakt, wenn es darum geht, mehr Selbstorganisation im Team zu etablieren: Sie müssen einerseits Orientierung in Richtung eines neuen Zukunftsbildes geben, andererseits sich nach und nach von lieb gewordenen Aufgaben und Denk- und Verhaltensweisen trennen. Und sie müssen Teile von Führungsverantwortung an Mitarbeitende abgeben. Hierzu braucht es die Bereitschaft der Führungskraft Dinge abzugeben und die Bereitschaft des Teams Dinge zu übernehmen.

Das hört sich so an, als müssten die Führungskräfte bei sich selbst anfangen?

Ja, genau der Meinung bin ich. Der erste Schritt besteht darin, sich selbst klar zu machen, was das Zukunftsbild ist, um darauf basierend eine grobe Orientierung im Außen geben zu können. Die Formulierung einer Vision finde ich sehr hilfreich, um damit anschließend mit dem Team darüber in den Diskurs zu gehen und das Bild zu verdichten. Außerdem sollte die Führungskraft auf eine „innere Forschungsreise“ bei sich selbst gehen: Mit einer ganz pragmatischen Inventur, wie weitreichend sie Aufgaben und Entscheidungen an ein Team übergeben will, kann es losgehen. Kniffeliger ist es, sich selbst auf die Spur zu kommen, inwieweit sie den Teammitgliedern überhaupt mehr Eigenständigkeit zutraut. Oft haben die Chef:innen in Coachings das Aha-Erlebnis, dass sie selbst wie eine Bremse auf die Mitarbeitenden wirken: Mit dem Gedanken im Kopf „der kann das nicht“, wird er wohl niemandem leichten Herzens und voller Zuversicht einen wichtigen Arbeitsbereich übertragen. Allein, indem er das Wort „noch“ in den Satz einfügt, tun sich Möglichkeiten auf: „Der kann das noch nicht“ impliziert die Frage, was er oder sie bräuchte, um es in Zukunft zu bewältigen. Darüber kann man sich dann gemeinsam verständigen: hilft ein Training oder Side-Coaching? Muss der Entscheidungsspielraum neu abgesteckt werden, damit er oder sie sich sicher fühlt und loslaufen kann?

Heißt das, dass auch mehr Entscheidungsspielraum für das Team entstehen wird?

Das ist erfahrungsgemäß ein wichtiger Aspekt, wenn es um mehr Selbstorganisation geht. Schließlich will man beispielsweise Zeit gewinnen, indem lange Wege für Rücksprachen vermieden werden. Es geht darum, dass sich das Team sukzessive, am besten in einem in Schleifen angelegten Prozess den Entscheidungsspielraum erobert. Indem nach und nach Themen vereinbart werden, zu denen die Entscheidungsbefugnis ins Team geht, und Entscheidungsprinzipien angewendet werden, können alle dazulernen und an Sicherheit gewinnen. Vorausgesetzt natürlich, dass regelmäßig ganz bewusst die Auswertung erfolgt, was schon gut funktioniert, wo man ins Stocken geraten ist und welche Hürden zu beseitigen sind. Der Fallstrick für manch eine Führungskraft liegt darin, dass Teammitglieder oft auf anderen Wegen zu anderen Entscheidungen kommen als sie selbst: Wenn sie das nicht akzeptiert und bei auftauchender Unsicherheit „mal schnell“ selbst entscheidet, um die Sache voranzubringen, provoziert sie praktisch selbst, dass sich das Team immer wieder zurücklehnt, statt eigene Entscheidungskompetenz aufzubauen.

Wie lange dauert es, die Zusammenarbeit auf das nächste Level zu bekommen?

Eine pauschale Aussage fände ich nicht solide, schließlich hängt es davon ab, wie groß der Sprung vom Ist-Zustand zum gewünschten Ziel ist – es müssen ja nicht nur Organisationsstrukturen geändert, sondern auch individuelle und Team-Fähigkeiten aufgebaut werden. Wenn wir davon ausgehen, dass die Akteure raus aus eingefahrenen Loipen auf noch unbefahrene Felder kommen wollen, braucht es erfahrungsgemäß Geduld und eine Systematik für die Transformation. Dann kann man sukzessive innerhalb von Monaten Erfolge sehen. Sich für den Weg mit einigen Grundgedanken der Systemtheorie vertraut zu machen und Aspekte der agilen Veränderungsbegleitung zu beherzigen, macht aus meiner Erfahrung viel Sinn und erhöht die Erfolgschancen!

Gilt das auch für Krisen-Zeiten wie wir sie aktuell durch die Corona-Pandemie erleben?

Diese Krise war eine Initialzündung von außen, die Führungskräfte und ihre Teams in neue Formen der Zusammenarbeit hineinkatapultiert hat. Z.B. indem viele aus dem Homeoffice arbeiten mussten. In der Anfangsphase der Krise ging es für die meisten erst einmal darum, sehr operativ das Geschäft abzusichern. Da stellte sich die Vertrauensfrage, ob die Mitarbeitenden einen guten Job machen, wenn sie nicht im Büro sind, fast nicht. Manch ein:e Chef:in berichtete mir überrascht von erstmals sichtbar gewordenem Organisationstalent einzelner Teammitglieder. Sie trugen eigenständig dazu bei, dass Dinge ans Laufen kommen. Da entstand also gezwungenermaßen eine neue Form von Selbstorganisation bzw. Selbstverantwortung. Ein Zukunftsbild zu zeichnen wurde bereits nach wenigen Wochen wichtig: Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse ging es darum, mit den Folgen der Krise umzugehen, Orientierung zu geben und den Zusammenhalt wieder zu fördern. Die Transformation geschah vielleicht nicht so systematisch, beinhaltet allerdings die gleichen Herausforderungen wie in normalen Zeiten.

Sollten die Führungskräfte jetzt allein entscheiden, wie die Organisation der Zukunft aussieht?

Meiner Meinung nach würde das in vielen Fällen einen Rückschritt bedeuten, mindestens auf operativer Ebene. Stattdessen könnte z.B. in gemeinsamen Retrospektiven mit der Start-Stop-Continue-Methode ganz konkret die Zusammenarbeit in der Krise reflektiert werden. Dabei könnte herausgearbeitet werden, was an Methoden/ Routinen neu hinzukommen soll, was wieder verworfen werden, und welche wertvollen Errungenschaften erhalten und weiterentwickelt werden sollten. Und da hat ein Team sicherlich differenziertere Sichtweisen und Bedürfnisse, als eine Führungskraft allein und ist unter Umständen momentan sogar gestärkt im Zutrauen, das auch einzubringen und umzusetzen. Ich selbst habe in einer Auswertungsrunde mit Führungskräften aus mehreren Unternehmen erlebt, wie überrascht sie von dem sich ergebenden Gesamtbild und den sich daraus ergebenden Vorschlägen ihrer Mitarbeitenden waren!

Vielen Dank für das spannende Interview und die inspirierenden Einsichten.

ZUR PERSON

Antoinette Beckert ist Systemische Supervisorin, Coach und Change-Managerin aus Berlin und langjährige Trainerin/Beraterin bei der Haufe Akademie. Seit 2003 berät sie Führungskräfte und ihre Teams, vorwiegend in technologieorientierten mittelständischen und großen Unternehmen. 2019 erschien ihr Buch „Der Balanceakt zwischen Führung und Selbstorganisation. Wege der Transformation“ beim V&R Verlag. Sie führt zusammen mit weiteren Trainerinnen das Qualifizierungsprogramm Change-Management intensiv bei der Haufe Akademie durch.

 

 

 

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Über den:die Autor:in

Torsten Otto

PMP®, Leiter Entwicklungsprogramme
Fokus: Optimierung von Projektmanagement, Konzeption/Umsetzung von Entwicklungsprogrammen und Veränderungsprojekten, Coaching. Torsten Otto verfügt über langjährige Erfahrung als Führungskraft, Berater, Trainer und Coach.

Zur Themenübersicht Digital Transformation & Change Management