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Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) in der Praxis

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Wie funktioniert BEM konkret in der Praxis eines mittelständischen Unternehmens? Julia Hindorf, BEM-Koordinatorin bei der Haufe Group, über die Bereitschaft der Mitarbeiter:innen, am BEM teilzunehmen, Lessons Learned und einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess im BEM.

Frau Hindorf, können Sie uns bitte einen typischen BEM-Prozess in Ihrem Unternehmen beschreiben?

Zum BEM werden bei uns – wie es vom Gesetzgeber vorgeschrieben ist – alle Kolleg:innen eingeladen, die innerhalb von 12 Monaten 6 Wochen arbeitsunfähig waren. Dazu werten wir regelmäßig aus, welche Kolleg:innen diese Anzahl an Krankheitstagen erreicht haben und laden dann auf dem Postweg an die Heimadresse zum BEM-Gespräch ein. Das Gespräch ist natürlich immer nur ein Angebot. Manchmal besteht individuell kein Bedarf oder die Kolleg:innen haben für sich gute Gründe, nicht am BEM teilzunehmen. Wird die Einladung angenommen, organisieren wir BEM-Koordinatorinnen einen Termin zum Erstgespräch, an dem neben dem:der Mitarbeiter:in je nach individuellem Wunsch auch Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung, Führungskraft oder andere Vertrauenspersonen innerhalb des Unternehmens teilnehmen. Ergänzend dazu können BEM-Prozesse auch eigeninitiativ als präventive Maßnahme durch Mitarbeitende auf den Weg gebracht werden. Niemand muss warten, bis er oder sie „lange genug” krank war, um das BEM zu nutzen.

Im Rahmen des Gesprächs werden zunächst Fragen geklärt und die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit im BEM besprochen. Inhaltlich dient es primär dem Zweck, ungünstige Einflussfaktoren im beruflichen Umfeld der:des teilnehmenden Kolleg:in zu identifizieren und nach Möglichkeit durch eine entsprechende Umgestaltung aus der Arbeitsunfähigkeit heraus zu helfen oder einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen. Die langfristige Gesundheit von Mitarbeitenden ist ein gemeinsames Anliegen von Arbeitnehmenden und Arbeitgeber.

Wer wird bei Ihnen in den BEM-Prozess mit eingebunden?

Wer am BEM mitwirkt, bestimmt der:die betreffende Mitarbeitende. Gesetzt ist lediglich der:die BEM-Koordinator:in. Häufig sind außerdem Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung mit einbezogen. Die Erfahrung zeigt außerdem, dass Führungskräfte oft sinnvolle Gesprächsteilnehmer:innen sind, da sie maßgeblich Einfluss auf die Arbeitsbedingungen der betreffenden Mitarbeiter:innen nehmen können. So sind sie wichtige Unterstützer:innen für ein gelungenes BEM. Auch unsere Betriebsärztin und unser Arbeitspsychologe sind gelegentlich mit eingebunden. Wer am Ende mitwirkt, bestimmt aber immer die betreffende Person selbst.

Ab wann gilt bei Ihnen der BEM-Prozess als abgeschlossen?

Über den Abschluss des BEM-Prozesses bestimmt das BEM-Team gemeinsam mit der betreffenden Person. Manchmal wird schon im Erstgespräch deutlich, dass der:die Kolleg:in bereits bestmöglich für sich Sorge tragen konnte und derzeit keine weitere Unterstützung benötigt wird. Manchmal erstreckt sich der Prozess auch über mehrere Monate. Wir halten diesen in der Regel so lange offen, bis der Übergang zurück an den Arbeitsplatz individuell durch den:die Teilnehmer:in als erfolgreich abgeschlossen bewertet wurde oder alternative Möglichkeiten der beruflichen Entwicklung sowohl intern wie auch extern gefunden wurden. Die erneute Aufnahme des BEM kann jederzeit auf Initiative der:der Mitarbeitenden erfolgen.

Welche sind für Sie die größten Herausforderungen in BEM-Gesprächen?

Einer der herausforderndsten Aspekte ist, wenn sich im BEM abzeichnet, dass die Zusammenarbeit zwischen dem:der BEM-Teilnehmer:in und dem Arbeitsumfeld schon vor der Erkrankung unbefriedigend oder belastet war, es aber bisher versäumt wurde, darüber gut im Gespräch zu sein und die Entwicklung im Blick zu haben. Ist das der Fall, kann sich Perspektivlosigkeit und eine mangelnde Bereitschaft, zu diesem unzufriedenstellenden Zustand zurückzukehren, einstellen.

Auch die fehlende Erfahrung im Umgang mit psychischen Erkrankungen und die damit einhergehende Verunsicherung unter Führungskräften und Kolleg:innen sind manchmal herausfordernd. Hier gilt es, zu informieren und das gegenseitige Verständnis zu stärken, um wieder Vertrauen in eine langfristige, tragfähige Zusammenarbeit zu gewinnen.

Welche Chancen bietet BEM?

Das BEM bietet die Chance, sich in gesundheitlich belastenden Arbeitssituationen, oder auch auf dem manchmal mehr, manchmal weniger anspruchsvollen Weg zurück an den Arbeitsplatz, die verdiente Unterstützung zu holen. Dazu gehört neben der Begleitung und Moderation des Prozesses die Erfahrung des BEM-Teams, aber auch die verschiedenen Kompetenzen und das Fachwissen, das die Mitwirkenden darüber hinaus einbringen. Das BEM macht einen Raum auf, in dem über Gesundheit und Krankheit am Arbeitsplatz gesprochen werden kann und ressourcenorientiert auf Gelingendes und Entwicklungsfelder geschaut werden kann. Es können diejenigen Personen zusammenkommen, die hilfreich Einfluss auf die Gestaltung des Arbeitsfelds nehmen können, um somit langfristig zur Gesundheit beizutragen.

Wie hoch ist die Bereitschaft der Mitarbeiter:innen, an einem BEM-Prozess teilzunehmen?

In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Zusagen zum BEM etwa bei einem Drittel eingependelt. Das klingt zunächst nicht viel und lässt Raum für Interpretation offen. Wir sind als BEM- Koordinator:innen natürlich überwiegend mit denjenigen Kolleg:innen in Kontakt, die Bedarf, Interesse und Bereitschaft zu einem Gespräch mitbringen. Manchmal rufen Kolleg:innen aber auch an, weil sie Fragen zur Einladung haben oder weil sie uns mitteilen möchten, weshalb sie das Gespräch gerade nicht in Anspruch nehmen möchten. Mein Eindruck ist: Wer mit uns spricht, egal ob es in einem BEM-Prozess oder eben auch nur kurz am Telefon ist, macht gute Erfahrungen. Das würde ich mir für alle Kolleg:innen wünschen. Gleichzeitig bleibt das BEM aber auch ein freiwilliges Angebot. Da ist Hartnäckigkeit im Nachfragen nicht angebracht. Eine Absage oder ausbleibende Rückmeldung muss auch kein negatives Signal sein. Viele Kolleg:innen, die wir zum BEM einladen, haben schlicht auch gerade keinen Gesprächsbedarf, da sie bereits gut für sich Sorge tragen konnten und somit aktuell unsere Unterstützung nicht benötigen.

Gab es bei Ihnen im Laufe der Zeit einen AHA-Effekt oder ein bestimmtes Learning zum Thema BEM?

Eine hilfreiche Erkenntnis war zum Beispiel, dass es gar nicht in jedem BEM darum geht, bahnbrechend neue Lösungen zu entwickeln und Antworten auf die Fragen des BEM-Teilnehmers bzw. der BEM-Teilnehmerin zu geben. Ein wesentlicher Beitrag ist auch, die bisherigen Lösungsbemühungen und in vielen Fällen auch bereits eingetretenen Erfolge hervorzuheben und zu würdigen. Verbesserungen in der Arbeitswelt werden ja nicht ausschließlich durch das BEM, sondern eben auch an vielen anderen Stellen, insbesondere auch durch die Betroffenen selbst und ihr Unterstützersystem, herbeigeführt.

Wir haben gelernt, uns in den BEM-Teams in unseren unterschiedlichen Professionen gut einzubringen und gegenseitig einen guten Platz zu ermöglichen. Neben einer gelingenden Gesprächsführung, ressourcenorientierter Haltung und einem systemischen Grundverständnis tragen alle Beteiligten mit ihrer individuellen Expertise zu einer guten Praxis bei.

Haben Sie Tipps und Empfehlungen für Unternehmen, die mit ihrem BEM-Prozess noch ganz am Anfang stehen?

Für uns ist entscheidend, die BEM-Praxis kontinuierlich weiterzuentwickeln. Wir bitten die Teilnehmenden um eine Rückmeldung, wie sie das BEM erlebt haben, was für sie hilfreich war und wie wir sie noch besser hätten unterstützen können. Gemeinsam mit allen Mitwirkenden des BEM führen wir außerdem regelmäßige Lessons Learned-Termine durch, um im Vorgehen und der Kommunikation über das BEM Verbesserungen zu entwickeln. Das würde ich auch jedem Unternehmen empfehlen, das BEM neu einführt: man startet vielleicht nicht mit dem „perfekten“ Vorgehen, aber anhand der Rückmeldungen und einer Lernhaltung kann man die eigene BEM-Praxis kontinuierlich weiterentwickeln und so, abgestimmt auf die Zielgruppe, die vorherrschende Kultur in der Organisation und die eigenen Ansprüche verbessern.

Frau Hindorf, wir danken Ihnen für die interessanten Einblicke in Ihre Arbeit!

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Über den:die Autor:in

Julia Hindorf

ist Consultant für Learning & Development, systemische Beraterin und BEM-Koordinatorin bei der Haufe Group​.

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