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Diversity Management: Minderheitenstress mindern

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„Wir haben leider keine Hafermilch. Wir haben nur normale Milch.” Dieses harmlose Beispiel zeigt: Es gibt Regeln und Gewohnheiten, die eine Mehrheit für „normal” hält – für universell und allgemeingültig. Wie die, dass „normale Milch” Kuhmilch ist. Für jene aber, die zum Beispiel gar keine Kuhmilch trinken, ist Hafermilch „normal”. Sie müssen ihr „Normal” gegen das der Mehrheit behaupten.

Definition „Normative”

Normative bringen zum Ausdruck, nach welchen Maßstäben und Regeln das Denken und gesellschaftliche Zusammenleben organisiert ist, was zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext als „normal”, gut, wahr oder ideal gilt. Unreflektiertes Denken hält Normatives für universell und allgemeingültig. Postmodernes Denken geht hingegen davon aus, dass es der eigenen Interpretation unterliegt, was ganz subjektiv für jede:n „normal” ist.

Wenn „Normalität” Stress erzeugt

Gravierender sind Einschränkungen oder sogar Diskriminierungserfahrungen, die Menschen erleben, weil sie in den Kernbereichen ihrer Persönlichkeit „anders“ sind als die Mehrheit : wenn sie eine körperliche oder geistige Einschränkung haben; wenn sie lesbisch oder die einzige Schwarze Person im Team sind; oder wenn sie als Mitarbeiter:in aus dem Ausland nicht so gut Deutsch sprechen wie ihre Kolleg:innen. Was für die Mehrheit „normal“ ist (keine Behinderung haben, heterosexuell und weiß sein, Deutsch als Muttersprachler:in sprechen), löst bei ihnen Stress aus. Sie bräuchten für sich ein „anderes Normal”.

Was ist Minderheitenstress und was löst ihn aus?

Minderheiten müssen Energie aufbringen, um sich durch den Alltag zu bewegen. Sie müssen sich aktiv darum bemühen, einen barrierefreien Weg ins Büro zu finden; sie müssen sich vielleicht anstrengen, als nicht-heterosexuelle Person „nicht zu viel“ von ihrem Privatleben preiszugeben oder sie müssen immer wieder rassistische Übergriffe ertragen; sie müssen vielleicht immer wieder die Peinlichkeit durchleben, andere Menschen sprachlich missverstanden zu haben. Nicht weil mit ihnen vermeintlich etwas nicht stimmt, sondern weil sie nicht der Mehrheit entsprechen, erleben sie Stress. Normatives Denken erzeugt diesen Stress. Dabei handelt es sich nicht um lästige Anekdoten, sondern um chronischen Schmerz. Der Stress, um den es hier geht, ist immer da. Wie ein Tinnitus im Hintergrund.

Individuelle Bedürfnisse und Stressquellen erkennen

Es ist ein Stress, den Menschen, die der Mehrheit entsprechen, nicht erleben müssen. Die Welt ist nach Normativen geordnet, die ihren Bedürfnissen entsprechen. So auch der Arbeitsalltag. Sie können sich darin stressfrei und ohne Energieverlust bewegen. Sie müssen sich nicht anstrengen, um „trotzdem“ gut durch den Alltag zu kommen: Weil sie nicht im Rollstuhl sitzen und Türschwellen problemlos überwinden können; weil sie von ihrer heterosexuellen Beziehung erzählen können, ohne Angst vor abwertenden Blicken zu haben; weil sie sich mit ihren Kolleg:innen in ihrer Muttersprache unterhalten und Missverständnisse leichter vermeiden können. Weil sie mit ihren Merkmalen der Mehrheit entsprechen, profitieren sie von Normativen. Normative sichern ihre Privilegien. Minderheiten leiden darunter, dass die Mehrheit ihre Privilegien mit Hilfe von Normativen sichert.

Folgen von Minderheitenstress am Arbeitsplatz

Der Stress, den Minderheiten durchleben, wird als Minderheitenstress (minority stress) bezeichnet. Er kann dazu führen, dass Menschen morgens nicht mit 100 Prozent Energie an ihren Arbeitsplatz kommen; dass sie sich aus Angst vor Diskriminierung oder Gewalt in ihren Teams verstecken, weil sie sich schützen wollen – und damit auch ihr kreatives und produktives Potenzial einschränken. Minderheitenstress kann nicht nur zu mentaler Ermüdung, sondern auch zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen führen. In schlimmen Fällen kann der Minderheitenstress zu Suizid führen. Weitere Folgen können sein:

  • Das Gefühl, nicht dazuzugehören, kann zu mangelndem Teamplay und mitunter zu innerer (oder tatsächlicher) Kündigung führen.
  • Der Wunsch, dazuzugehören, kann zu Over-Achieving und Burnout führen.
  • Die Angst vor Beschämung oder Gewalt (körperlich, sozial, verbal) kann wiederum zu einer Scheu vor Nähe oder authentischer Begegnung führen. Menschen ziehen sich zurück, verstecken sich und zeigen somit auch ihre kreativen, produktiven Seiten nicht ganz – sie gehen mit „angezogener Handbremse” durch den Arbeitsalltag.

Diversity Management als pain killer

Wenn Minderheitenstress der „pain” ist, kann Diversity Management ein „pain killer” sein.

Unternehmen als Mikrokosmos spiegeln wider, was sich auch in der Gesellschaft, dem Makrokosmos, zeigt. Auch in Unternehmen gibt es stresserzeugende Normative und Regeln, die der Mehrheit das Leben erleichtern und den Minderheiten erschweren. Auch dort gibt es Minderheitenstress mit den entsprechenden Folgen für die Mitarbeiter:innen, Bewerber:innen und Kund:innen.

Unternehmen, die sich auf den „Diversity-Pfad” begeben, sorgen dafür, dass Normative in Frage gestellt werden und es eine Vielzahl von „Normals” gibt: Alle Mitarbeiter:innen, Bewerber:innen und Kund:innen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, dürfen so sein, wie sie sind und sie werden in der sozialen Firmenidentität, der social corporate identity, sichtbar. Die Bedürfnisse von Minderheiten werden gesehen, sie werden einbezogen, sie werden geschützt. Sichtbarkeit, Sicherheit und Teilhabe sind dann nicht nur Privilegien der Mehrheit. Sie sind allen zugänglich.

Konkrete Projekte als Diversity Manager:in

Das kann sich in größeren Maßnahmen zeigen, wie einer:einem mit Verantwortung und Ressourcen ausgestatteten Diversity Manager:in, in einer vielfältigen Bildsprache, also beispielsweise einer Webseite, die mehr als nur weiße Menschen zeigt, oder in der Lohngleichheit aller Geschlechter. Dass ein Unternehmen sein Diversity Management lebt, kann sich aber auch an eher weniger aufwendigen Maßnahmen im Arbeitsalltag zeigen: Dass sich in den Erste-Hilfe-Kästen Pflaster in verschiedenen Hauttönen befinden; dass es am Pride/CSD-Umzug teilnimmt; oder dass in Stellenausschreibungen explizit ältere Bewerber:innen angesprochen und zur Bewerbung aufgefordert werden.

Fazit
Wenn ein Unternehmen sich verpflichtet, Vielfalt wertzuschätzen, können alle Menschen dort sein, so unterschiedlich sie auch sind. Sie werden besser geschützt und stärker beteiligt. Diversity Manager:innen können mithelfen, dass das Monopol bestimmter Normative durch eine gleichrangige Vielzahl von „Normals” ersetzt wird. Dadurch kann der Minderheitenstress bei bislang benachteiligten Gruppen reduziert werden.

So mindern Sie Minderheitenstress

5 Tipps, was Sie tun können, um „als Ally” den Minderheitenstress Ihrer Kolleg:innen zu mindern

  1. Hören Sie den Kolleg:innen zu, die in Ihrem Unternehmen unterrepräsentiert oder Angehörige von Minderheiten sind. Haben Sie ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Diskriminierungserfahrungen. Achten Sie dabei immer auf Vertraulichkeit. Aber: Geben Sie niemals ungefragt Ratschläge.
  2. Fragen Sie, wie Sie die Person unterstützen können. In welchen Bereichen Ihres Unternehmens sind Veränderungen notwendig, für die Sie sich gemeinsam mit Ihrer Führungskraft einsetzen können?
  3. Seien Sie ein:e wachsame:r Verbündete:r und treten Sie offensiv gegen Diskriminierung ein. Dulden Sie, zum Beispiel in Pausensituationen, keine als „Witz“ getarnte Herabwürdigung von Personen mit Minderheitenmerkmalen.
  4. Treten Sie für die Rechte und Beteiligung von Menschen mit Minderheitenmerkmalen ein, auch wenn Sie selbst bereits über beides verfügen. Helfen Sie mit, dass unterrepräsentierte Gruppen bei wichtigen Entscheidungen sichtbarer werden und Gehör finden. Wenn Sie ein Mann sind, setzen Sie sich für die Gleichstellung von Frauen und anderen Geschlechtern ein.
  5. Professionelles Diversity Management bewirkt nachhaltige Veränderungen. Setzen Sie sich deshalb dafür ein, dass statt punktueller Einzelmaßnahmen ein wirkungsvolles Diversity Management in Ihrem Unternehmen implementiert wird.

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Über den:die Autor:in

Dr. Patrick Diemling

Dr. Patrick Diemling ist Systemischer Berater & Trainer, Schauspieler & Moderator und Diversity-Experte LGBTIQ.

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